Kathrin Dreckmann (Düsseldorf, GER)
Ganztägiges Screening-Programm in der Videolounge der Stiftung IMAI – Inter Media Art Institute
Chair: Dirk Schulz (Cologne, GER)
Angela McRobbie (London, UK / Berlin, GER)
Der Vortrag zeigt eine Vielzahl kritischer Betrachtungen zur Subkulturtheorie und ihren Nachwirkungen, zum Beitrag des Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies und den neomarxistischen Modellen von Stuart Hall. Es werden außerdem Überlegungen zur Aneignung von Subkultur als „künstlerische Kritik“ durch den Mainstream der Konsumkultur angestellt (Boltanski und Chiapello 2005) sowie zur Umwandlung von Subkultur in jugendorientierte, gouvernementalisierte Arbeitsmärkte für Kulturwirtschaft (McRobbie 1989 / 2016).
Thomas Love (Chicago, IL, US / Berlin, GER)
Angesichts ihrer Vorliebe für racial drag (Verfremdung ethnischer Zugehörigkeit), Geisha-Make-up, Kriegshauben und nackte Schwarze Körper überrascht es wenig, dass die als „Neuen Wilden“ bekannten deutschen neoexpressionistischen Maler*innen des Primitivismus bezichtigt wurden. Gleichzeitig waren sie auch Teil der westdeutschen Subkulturen – mit der Musik des New Wave, die DIY-Bewegung und selbstorganisierte Räume, queere Mode und das Nachtleben. Bestand eine Verbindung zwischen dem Primitivismus der Künstler*innen und ihrem subkulturellen Milieu? Entgegen dem üblichen Verständnis des Neoexpressionismus als reaktionäres Fördern einzelner kreativer Genies und nationaler (bzw. nationalistischer)
Kultur diskutiere ich in diesem Vortrag, dass dieser Stil als Medium eines kollektiven subkulturellen Ausdrucks fungierte. Darüber hinaus erläutere ich, inwiefern der Begriff des subkulturellen Stils eine dauerhafte Trope der primitiven Kunst als authentische, nicht-entfremdete und nicht-individualistische Form hervorruft. Diese neue Perspektive auf den Primitivismus der Neuen Wilden zeigt, dass es dabei um mehr geht als nur um das Problem des Gegenstands.
Die hier aufgefächerte Perspektive schafft eine Öffnung hin zu
allgemeineren Fragen danach, wie Subkulturen kanonisiert und archiviert werden
können, ohne dass dabei auf ein essentialistisches Verständnis von subkulturellem Stil
zurückgegriffen wird.
Chris Regn / bildwechsel (Graz, AUS / Hamburg, GER)
10.000 Videos von Frauen / Queers / Lesben / Trans* aus den vergangenen 40 Jahren bilden die Sammlung bildwechsel – ein wahres Juwel mitten in Hamburg. Die Räume, die die bildwechsel-Sammlungen beherbergen, wirken wie eine Wunderkammer voller Perspektiven, Erfindungen, Forschungen, Konzepten und Aufbrüchen. Eine Auswahl von Beispielen wird die Arbeitsweise von bildwechsel illustrieren und den Charme der Medien offenbaren.
Der bildwechsel – Dachverband für Frauen Medien Kultur existiert seit 1979 als Organisationsmodell für Künstlerinnen in Hamburg, hat in den letzten 40 Jahren ein internationales audiovisuelles Archiv aufgebaut und arbeitet mit Satelliten an verschiedenen Orten. Die Sammlungen beherbergen, neben einer Bibliothek mit Print-Archiv, eine Videokollektion mit Produktionen seit den frühen 1970er Jahren. bildwechsel als Aktionsforum und Archiv produziert Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten, und veröffentlicht diese.
Anne Niezgodka (Duisburg, GER)
Soziale Bewegungen unterliegen einem ständigen Veränderungsprozess und können daher keine verlässlichen Hüterinnen ihrer eigenen Geschichte sein. Um ihre Quellen zu sichern und die Geschichte von unten sichtbar zu machen, wurde 1985 das archiv für alternatives schrifttum (afas) in Duisburg gegründet. Es sammelt und erschließt Materialien der Neuen Sozialen Bewegungen seit 1945 und macht diese öffentlich zugänglich. Inzwischen ist das afas eines der ältesten und größten Freien Archive in Deutschland: Plakate der Friedensbewegung treffen auf Sitzungsprotokolle von Umweltgruppen, Punk-Fanzines stehen im Archivregal neben trotzkistischen Flugblättern, Broschüren zu Hausbesetzung und Audiokassetten aus der Anti-Apartheid-Bewegung warten auf die Nutzer*innen. Die afas-Mitarbeiter*innen erzählen von dem Versuch, Bewegungen im Archiv zu repräsentieren und dauerhaft zu bewahren.
Chair: Pinar Tuzcu (Kassel, GER)
Tiffany N. Florvil (Albuquerque, TX, US)
Der Westberliner Teil der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), einer kulturellen und politischen Organisation, schuf 1988 die Publikation „afro look: eine zeitschrift von schwarzen menschen in deutschland“. afro look zentrierte und bestärkte das Schwarzsein innerhalb einer Nation, die Schwarze Menschen lange an den Rand gedrängt oder sie als Nichtmenschen stigmatisiert hatte. Die Zeitschrift verlieh Schwarzen Deutschen eine lebendige Stimme und förderte damit eine intellektuelle und politische Tradition, die die Erfahrungen, die Kultur und die Geschichten Schwarzer Deutscher und anderer Menschen aus der Diaspora in Deutschland und darüber hinaus in den Mittelpunkt stellte.
In diesem Beitrag diskutiere ich, dass afro look nicht nur als ein kritischer Ort für Intellektualität, künstlerischen Ausdrucks, politischer Strategie und Gemeinschaft fungierte, sondern auch eine Möglichkeit bot, sich mit verschiedenen kulturellen Produktionen von Menschen aus der weltweiten Schwarzen Diaspora zu beschäftigen. Die Zeitschrift enthielt Filmkritiken, Buchbesprechungen, Konzerttermine und einiges mehr und zeigt, welch hohen Stellenwert die Popkultur und die Performance im Leben der Schwarzen Deutschen einnahmen. Sie benutzten afro look und die Popkultur der Schwarzen Diaspora in einem weiteren Sinne als Überlebensstrategie und um Solidarität in einem mehrheitlich weißen Land zu schaffen. Für viele war die Popkultur der Diaspora Teil ihres Alltags.
Meryem Choukri (Warwick, UK / Gießen, GER)
Rassifizierte Menschen in Deutschland sehen sich mit einem imperialen, rassistischen kulturellen Archiv konfrontiert (Wekker 2016). Diesem begegnen sie mit einem weiten Spektrum an Antworten in Form von theoretischen Interventionen, kulturellen Produktionen und vielem mehr. Jene Antworten auf das hegemonial-kulturelle Archiv verstehe ich als Archive des Widerstands. Diese Archive stellen eine Form der (Wieder-)Einschreibung der Geschichte und Präsenz rassifizierter Communities in die europäische Landkarte dar und stellen hegemoniale Konzepte von Identität und Zugehörigkeit durch Kunst, Literatur, Poesie, Wissenschaft, Performance etc. infrage.
Feminist*innen of colour haben umfangreiche Archive des Widerstands aufgebaut, die sich rassistischen und patriarchalen Zuschreibungen widersetzen, aber auch Möglichkeiten bieten, unterschiedliche Utopien und Formen des Zusammenlebens zu entwerfen. Archive des Widerstands existieren nicht losgelöst von bestehenden Machtstrukturen, sondern immer auch in Auseinandersetzung mit ebendiesen. Sie sind nicht nur Quellen kritischen Wissens und kollektiver Erinnerung, sondern auch Speicher und Werkzeuge des Widerstands, die feministische Bewegungen of colour lebendig halten.
Peter Rehberg (Berlin, GER)
Die Nachlässe der an Aids Verstorbenen bildeten in den 1980er Jahren oft den Beginn schwuler und queerer Archive. Die Notwendigkeit des queeren Sammelns und Archivierens ergab sich nicht nur aus der Bedeutung des Aids-Aktivismus und queerer Bewegungsgeschichte, sondern darüber hinaus durch das oftmals schwierige Verhältnis zwischen den an Aids erkrankten Schwulen und ihren homophoben Familien. Oftmals wurden die Zeugnisse schwulen Lebens nicht von Familienangehörigen aufbewahrt, sondern von Lovern und Freund*innen. Aus dieser Situation heraus entwickelte sich der Gedanke, dass es für die Erinnerungsarbeit zu Aids einen Community-Ort geben müsse. Queeren Archiven ist auf diese Weise das Trauma von Aids eingetragen. Es zeigt sich auch in der Art der Sammlungsobjekte, zum Beispiel Alltagsgegenstände und Ephemera, Zeugnisse einer inoffiziellen Geschichtsschreibung und einer Kultur, die noch keine stabilen Institutionen hatte. Gehört Aids zur Gründungsgeschichte queerer Archive sind diese mittlerweile längst in eine Phase der Historisierung eingetreten, mit der auch ihre eigene Sammlungspraxis selbstreflexiv betrachtet wird.
grapefruits zine (Düsseldorf, GER)
grapefruits ist ein Fanzine über Komponist*innen und Klangkünstler*innen. Titelgebend ist das Buch „Grapefruit“ von Yoko Ono, die Grapefruits als eine Mischung aus Zitronen und Orangen verstand, eine Metapher für ihre eigene Identität – immer dazwischen. Seit 2019 veröffentlicht das grapefruits-Team zweimal im Jahr eine neue Ausgabe. Die Autor*innen wählen jede Künstler*in nach persönlichem Interesse aus und verbinden verschiedene Genres und Perspektiven, von frühen Pionier*innen bis zu aufstrebenden Künstler*innen. Während der Listening Session wird das grapefruits-Team Einblicke in die neueste Ausgabe geben, über ihr stetig wachsendes Projekt sprechen und derweil Tracks zu der aktuellen Ausgabe spielen.
In der fünften grapefruits-Ausgabe „Punk“, die im Rahmen dieser Konferenz erscheint, befassen sich die Autor*innen mit den Zusammenhängen zwischen Punk und Feminismus von den 1970er Jahren bis heute. Sie berichten über Künstler*innen, die sich mit Punk identifizieren oder identifiziert haben, und welche Erlebnisse damit einhergehen. Dazu zählen u. a. Burka Band (Afghanistan), Gudrun Gut (Deutschland), Haru Nemuri (Japan), Östro 430 (Deutschland), Radamel (Kolumbien) und SIKSA (Polen).
Dagmar Brunow (Stockholm, SWE / Hamburg, GER)
Alternative Archivstrategien sind Interventionen in das kulturelle Gedächtnis. Im besten Fall bringen sie die dominante Geschichtsschreibung ins Wanken und erzeugen ein lebendiges Archiv für Gegenwart und Zukunft. Neben Fragen von Inklusion stellen sich für Film- und Videoarchive besondere Herausforderungen in Bezug auf Materialität und Nachhaltigkeit, Urheberrecht und Ethik. Kann die archivarische Praxis Lücken in archivarischen Sammlungen aufzeigen (oder womöglich schließen)? Ist es so einfach, marginalisierte Gruppen einzubeziehen? Wie lassen sich Ausschlüsse sichtbar machen und wie können Archive Ambivalenzen der Sichtbarkeit thematisieren? Und wie lässt sich mit schwierigem Erbe umgehen? Diese Keynote präsentiert Wege einer veränderten Sammlungspolitik und Zugangsgestaltung im Kontext aktueller gedächtnispolitischer Debatten.
📍 WP8, Kölner Str. 73, 40211 Düsseldorf
📍WP8, Kölner Str. 73, 40211 Düsseldorf
Wolfgang Müller und Hermoine Zittlau (Berlin, GER)
Für Tabea Blumenschein
1982 gibt Wolfgang Müller das Manifest um die Subkultur der Westberliner „Genialen Dilletanten“ (sic!) heraus und zitiert gleich zu Beginn Johann Wolfgang von Goethe, der sich selbst als ein Dilettant, als ein Liebhaber jenseits der Extreme von akademischer Stubenhockerei und Do-it-Yourself-Pathos betrachtete. In Müllers 1980 zusammen mit Nikolaus Utermöhlen gegründetem Projekt Die Tödliche Doris wurden oft Profis und Dilettant*innen eingeladen und um Mitwirkung gebeten. Die im März 2020 verstorbene Künstlerin und Schauspielerin Tabea Blumenschein beteiligte sich von Anfang an mit Zeichnungen, Texten und ihrer Performance am Körperaufbau des körperlosen Popstars Doris. Und noch 2018 zeichnete sie 31 verschiedene Sextoys, deren Sounds im Tödliche Doris-Album „Reenactment – Das Typische Ding“ (2019) festgehalten sind.
Seinen Vortrag über die verschwundenen und (re-)konstruierten Körper in Subund Hochkultur widmet Wolfgang Müller seiner langjährigen Freundin und Künstlerkollegin Tabea Blumenschein. Zu sehen sind dabei Auszüge aus der Tödliche Doris-Oper „Autofahrt in Deutschland“, die erst kürzlich wiedergefunden und bearbeitet wurde. Bei der Premiere der Oper am 4. Dezember 1987 beeindruckte Hermoine Zittlau an der Seite von Tabea Blumenschein und Etsuko Okazaki. Mit der zweiten Aufführung dieser Oper am Folgetag feierte Die Tödliche Doris ihren endgültigen Abschluss als Liveband.
* Walther von Goethe (1818 – 1885) war einer der drei Enkel Goethes. Mit ihm starb das Geschlecht der Goethes aus. Von Walther ist folgender Satz überliefert: „Mein Großvater war ein Hüne, ich bin ein Hühnchen.“
Tabea Blumenschein, in: Die Tödliche Doris, Autofahrt in Deutschland [Driving in Germany], 1987, Videostill. © Archiv der Tödlichen Doris.
WP8, Kölner Str. 73, 40211 Düsseldorf
Dario Naunheim / Dyana Dyamond (Düsseldorf, GER)
Dario Naunheim (22) erzählt in der Travestieshow mit dem Titel „This is me“ aus seinem jungen Leben: über seine Kindheit in Gerresheim, die Schulzeit, sein Outing, den Start seiner Karriere als Deutschlands jüngster Travestie-Künstler mit 16 Jahren, sein Praktikum vor zwei Jahren bei der kultigen Dragqueen Olivia Jones in Hamburg, die schönen und die schlechten Zeiten eines jungen Mannes. „Ich habe schon so viel erlebt und erzähle darüber auf der Bühne, alles mit passender Musikuntermalung“, kündigt Dario Naunheim seine Revue an.
Seine Show startet er als Dario, dem normalen Jungen von nebenan, der sich im Laufe des Abends immer stärker verkleidet und schminkt, bis er am Ende als Dyana Dyamond auf der Bühne steht und damit als die Figur, für die Dario heute als Travestie-Künstler bekannt ist. Diese sehr private Show ist für Düsseldorf eine Premiere. Bislang wurde sie nur in Olivia Jones‘ Hamburger Club präsentiert.
WP8, Kölner Str. 73, 40211 Düsseldorf
Die Konferenz "Fringe of the Fringe - Die Privilegien der Subkultur im Gedächtnis von Institutionen" fand vom 18.-20. November 2021 im NRW-Forum Düsseldorf statt. Auf dieser Website ist das Veranstaltungsprogramm archiviert.
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Gefördert durch
Mit freundlicher Unterstützung von
Die Konferenz "Fringe of the Fringe - Die Privilegien der Subkultur im Gedächtnis von Institutionen" fand vom 18.-20. November 2021 im NRW-Forum Düsseldorf statt. Auf dieser Website ist das Veranstaltungsprogramm archiviert.
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